Zu Fuß durchs Piemont - Teil 2 - Gewitter, Goldrausch und Gnocchi

Die GTA - Weitwandern mit Gewittergarantie

Wenn man sich auf nichts verlassen kann, auf Gewitter ist Verlass!

Die Alpe Veglia, unser heutiges Ziel, ist eine Art Kessel, an dessen unteren Rändern die italienischen Tourismusbehörden idyllische Almen und Weiler drapiert haben. Unsere Albergo Lepontino besitzt sinnigerweise eine Terrasse und, zumindest an diesem Nachmittag, ein Abo auf Sonne. Von der Terrasse aus schaut man auf den Monte Leone, oder zumindest auf das, was zwischen den Wolken davon zu sehen ist. 


Der Gipfel ist vergletschert, allerdings ist vom Gletscher nicht mehr viel übrig. Das ganze Veglia-Tal sollte übrigens einst einem Stausee weichen. Wahrscheinlich wars der darunter verlaufende Simplontunnel, der das Projekt begraben hat, bevor der Stausee ihn begrub. Denn die Proteste der Bevölkerung dürfte in Italien kaum jemand ernst genommen haben, so wie überall auf der Welt. Alpe Veglia und Alpe Devero sind heute Nationalpark und zumindest vorerst gegen größere Eingriffe geschützt. Wir selbst greifen heute nur auf die köstliche Küche zu. 1000 Höhenmeter in jede Richtung, da ruft der Körper nach Nudeln. Wer jemals, wie wir, in der Albergo Lepontino einkehrt, reserviere sich allerdings beim Abendessen den Platz sehr nahe des Kamins. Der Wirt ist nämlich Homöopath im Umgang mit Brennholz.

Bei Italien hatten wir eher an Sonnenschirme gedacht

Wo steckt die Deutsche Umwelthilfe, wenn man sie mal braucht?

Beim Wandern im Hochgebirge gibt’s einige Dinge auf die man wirklich zählen kann. Gewitter zum Beispiel. Am Morgen grummelt es schon wieder. Monte Leone hat sich schon mal in die Wolken verzogen. Wir hätten heute 2000 Meter Abstieg gehabt, oder Absturz, wie mans nimmt. Denn das Gelände ist recht ausgesetzt (für Laien: Ausgesetzt ist der Begriff für Wandern auf einem etwas breiteren Schwebebalken) und bei Gewitter eher geeignet einem die Laune zu verderben. 

Wir nehmen die Abkürzung, die zwar auch runter geht, doch auf befestigten Wegen. Die nennen sich hier Mulatieras, alte Maultierwege, die man aus den unförmigsten Felsbrocken zusammengeworfen hat, wie man sie nur finden konnte. Wenn man in Deutschland heute einen Esel über solche eine Piste triebe, fielen sämtliche Tierschützer und Heere von Anwälten über einen her. 

 

Mulatierea von der besseren Sorte - aupassen bei Nässe!

Vegetarier aufgepasst!

Unser Zielort heißt Varzo und heute gibt’s ein Hotel! So richtig mit Eisdiele, schnarchfreier Zone im Doppelzimmer und einem Restaurant, in dem vom üblichen Speiseplan abgewichen wird. Das heißt, heute mal keine Penne mit Ragout. Wo wir gerade dabei sind: Wer die GTA wandert, tut gut daran, auf die angepriesene Halbpension mit dem speziellen GTA-Menü zu verzichten. Denn sonst gibt’s allabendlich Penne mit Ragout. Vegetarier dürfen auf Penne mit einem Stück Hartkäse herumkauen. 

Freilich hat die italienische Küche viel mehr zu bieten, aber das kostet ein wenig mehr und ist eben von der Laune der Köchin abhängig. Da diese in Italien meist grandios ist, schmeckts ohne Vorbuchung auch viel besser. In Varzo jedenfalls werden unsere Geschmacksnerven verwöhnt, allerdings werden unsere Nerven auf andere Art beansprucht. In der Nacht wütet ein Unwetter durchs Tal. Dass der Ort am nächsten Tag überhaupt noch steht, wundert uns sehr. In banger Erwartung der Wetterlage besteigen wir den Bus nach Zwischbergen, unserem heutigen Etappenstart, wieder in der Schweiz gelegen. 


Goldrausch

Heute gehts rüber ins Val Anzasca, in Anzascatal also. Die Fahrt mit dem Mietbus von Varzo bis Zwischbergen kostet ein kleines Vermögen. Aber mit Finanzen kennt man sich in dieser Gegend seit Jahrhunderten gut aus. Schon die Römer betrieben hier Goldminen. In Gondo, dem Dorf direkt hinter der Grenze, gibts sogar ein Goldmuseum. Kaspar Stockalper, heute würde man ihn Handelslöwe nennen, trieb im 17. Jahrhundert die Ausbeutung der Erzminen voran. Und wohl auch die der Leute hier ringsum. 

Zur Verbesserung seiner Geschäfte ließ er einen Saumweg anlegen, der unter Napoleon zum Fahrweg und später zur Strasse erweitert wurde. Ende des 19. Jahrhunderts kratzten französische Gesellschaften täglich 6 Tonnen Gestein aus dem Gebirge, mit je 40 Gramm Gold je Tonne. Der Wahnsinn brachte Gondo ein Luxushotel, Elektrizität, eine Postkutschenverbindung nach Paris und den Ruf, das “neue Kalifornien in den Walliser Bergen” zu sein. Und zwar genau bis zum 17. Mai 1897, als die Minengesellschaften den Stecker zogen.

 

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Schmuggelei

Die Einheimischen verlegten sich alsbald wieder auf den Handel. Und da dieser bekanntlich ohne staatliche Regularien mehr Penunse bringt, betrieb man ihn eben per Pedes und zollfrei. Schweizer Schokolade, Zigaretten und Kaffee konnte man in Italien für den doppelten Preis verhökern, weshalb man das Zeug in Kiepen über Schmugglerpfade ins Nachbarland schleppte. Manchmal erwischten die Grenzbehörden oder Lawinen die Schmuggler, dann wars das für die armen Schweine. Wenn heute überhaupt noch was geschmuggelt wird, dann höchstens in Richtung Schweiz und wahrscheinlich sind es Menschen.

In der Schweiz ist alles ein wenig ordentlicher, sogar die Wanderwege sind freigeschnitten. Weiter oben wird uns allerdings klar, dass die Mühen nicht uns Wanderern gelten, die wir kein Nummernkonto in Genf haben, sondern den sauteuren Schwarznasenschafen, die dort oben gehütet werden. Diese sollen sich nämlich möglichst wenig Kletten ins Fell ziehen, wenns bergab geht. Auf Ausstellungen erzielen die Tiere Maximalpreise und werden dann in Restaurants serviert, in denen unsereins nicht mal den Pudding bezahlen könnte.

Die Schäferin, die wir oben treffen, verbringt den Sommer mit ihren Hunden auf der Alm. Für die Wölfe ist das hier oben nämlich das Sternerestaurant. Wo allerdings verstecken sich die Viecher tagsüber? Kein Baum, kein Strauch behindert die Sicht auf Kilometer. 


Wir steigen weiter zur Alpe Laghetto. Dort erwartet uns die Boygroup der Hüttenwirte im Piemont. Zwei betagtere Herren, die man eher Entertainer denn Hüttenwirte nennen könnte. So viel Spaß an der Arbeit! Beneidenswert!

Allerdings können sie auch rechnen, etwas Geschäftssinn von Kaspar Stockalper steckt wohl in den Leuten hier in den Genen. Bei Bier und Sprite gelingt ihnen das Kunststück, uns allen einen viel zu hohen Betrag aus der Tasche zu ziehen. Früher hat man hier geschmuggelt, heute wird einfach phantasievoller abgerechnet. Dafür schmeckt das Essen besonders gut und die Lager sind ganz neu ausgebaut.

Da ist was dran, Alpe Laghetto

Bergsucht

Wir trennen fein säuberlich Schnarcher und Flachatmer auf die zwei Lager und schlafen durch. Die einen mehr, die andern weniger. Müssten wir künftig vielleicht auch nach Frühaufstehern und morgendlichen Rucksackkramern selektieren? Wer je mit 12 Leuten in einem Lager pennt, belege unbedingt das Bett am stets offenen Fenster. Insbesondere auch, um genau die Leute durchs Fenster zu stoßen, die dort im ersten Morgenlicht stehen, Reißverschlüsse mehrfach öffnen und schließen und nebenbei noch in Plastiktüten kramen.

Da wir nun alle wach sind, können wir auch gleich starten. Der Abstieg nach Cheggio (sprich Kejio) hat seine 1200 Meter und seine Tücken. Die Vegetation macht jeden Schritt zum Wagnis, der Pfad ist ausgewaschen und angeblich sind Schlangen hier keine Seltenheit. Wer dieses Stück ohne Knochenbrüche und Schlangenbisse geschafft hat, darf ein Foto vom türkisfarbenen Lago Alpe dei Cavalli machen, dessen Farbe den Mineralien entspringt, die das Wasser enthält. Oder enthalten sollte, der See ist halb leer.


1.000 Höhenmeter mindestens

Da wir gerade dabei sind, dürfen ein paar Worte übers Gelände eingestreut werden. Wanderer, kommst du auf die GTA, dann wapne dich mit Geduld und dicken Oberschenkeln! Denn die GTA, die Grande Traversata delle Alpi, ist kein Sonntagswanderweg. Tag für Tag sind 1.000 Höhenmeter tägliches Brot des Wanderers. Und zwar steinhartes Brot! Oft geht die Sonne erst nach 1.200 oder 1.300 Metern Aufstieg oder Bergabstolperei unter. Wege im eigentlichen Sinne gibt es kaum. Im günstigen Falle sind es Pfade, oft nur Steige, nicht selten Mulatieras, alte Maultierwege. Diese verleiten zu Steissbrüchen und verstauchten Knöcheln. Überhaupt kann von normalem Gehen eher selten die Rede sein. Vielmals muss alle paar Schritte irgendein Hindernis umgangen, überstiegen oder auf andere Art überwunden werden. Man springt auch mal von Felsbrocken zu Felsbrocken und hofft auf gesunde Landung. Sowas nennt sich dann Blockgelände. 

Der Lohn allen Schweißes sind grandiose Aussichten, die Berge berauschen dich mit ihrer schönen Seite. Ist man dieser Droge einmal verfallen, darf man sich getrost als rettungslos verloren betrachten. Bergsucht ist nicht therapierbar. Außer mit noch mehr Bergen.

Blick von der Alpe Laghetto

Natürlich hat man irgendwann von all den Bergen die Nase voll. Aber so weit ist es bei uns noch lange nicht. Wir erreichen das nächste Etappenziel. Und was für eines! Die Alpenvereinshütte in Cheggio ist eher ein Witz! Hatten die beiden Alten gestern noch Bombenstimmung verbreitet, ist der Hüttenwirt in Cheggio eher Schlaftablette. Die Lager sind klamm bis feucht, die Fenster wegen der Schlangen verriegelt. Aus dem Duschkopf rinnt nur Kaltwasser, und davon kaum genug, um die Seife wieder runter zu waschen. Ach ja: Bitte den Lichtschalter während des Waschvorgangs nicht ansprechen! 

 

Feuchtrauminstallation

Schnarchverbot und Tischkultur

Zum Glück gibts in dem süßen Örtchen eine Bar und einen vernünftigen Grappa. Salute!

Am nächsten Morgen erwachen wir, oder liegen noch immer wach, Ohropax hin oder her. Schnarchen gehört eigentlich verboten. Was hat man in den letzten Jahren nicht alles für Regeln erlassen, nur gegen das Schnarchen gibts kein Gesetz. Egal ob Süßwaren, Schnitzel oder Bahnfahrkarte, der Gesetzgeber greift frühzeitig zur Notbremse, bevor irgendwer in Tränen ausbricht. Nur beim Schnarchen pennt die Politik. Vielleicht sind sie ja selbst Schnarchnasen? Wir jedenfalls gähnen den neuen Tag an, und eine neue Herausforderung. Zunächst gehts fein bergab, knapp 950 Meter. Zu Mittag kehren wir in einer Pizzeria ein, denn vor uns liegen noch 1000 Meter Aufstieg, und heute kennt die Sonne keine Freunde. 

Tischkultur abseits des Bratwurststandes

Wer glaubt, er könne in Italien mit 13 Leuten mal schnell eine Pizza runterwürgen und dann weiterwandern, der irrt gewaltig. Zunächst muss mal das Lokal präpariert werden. Wo in Deutschland die Gruppe vom Wirt auf diverse Tische verteilt und mit laminierten Menükarten beworfen wird, werden im Piemont erstmal Tische gerückt. Man will die Gruppe doch nicht auseinanderreißen. Immerhin könnten die sich doch was zu erzählen haben, wie das in Italien gute Tradition beim Essen ist. 

Die Bedienung ist erst zufrieden, wenn die Tafel gerückt, dekoriert und bestückt ist, während wir draußen mit den Hufen scharren. Auch Nahrungsaufnahme kann Kultur sein, und Essen in Italien ist Kultur vom Feinsten. Profan einfach ne Pizzakarte ablesen? Nee, ohne Vorspeisen und die unablehnbaren Süßspeise zum Schluß wären wir hier wie Barbaren unterwegs. Naja, im Grunde sind wir das auch.

Alpe Colma

Am Ende haben wir es doch geschafft. Auch wenn das Bezahlen immer eine Herausforderung ist. Dem deutschen Finanzwesen ist das italienische eben doch deutlich unterlegen. Irgendwie hofft jeder von uns am Ende, dass er auch wirklich sein Essen bezahlt hat, und nicht das der netten, lauten Familie am Nachbartisch.

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Alpe Colma sehen und nie vergessen

Angesichts des nun kommenden Anstiegs allerdings wird Geld bald nebensächlich. Von hier an gehts 1.000 Meter hoch bis zur Alpe Colma, und zwar am Stück. Von oben brennt der Planet, als gäbe es kein Morgen, da freuen wir uns fast auf das nächste Gewitter. Aber die Alpe Colma, unser heutiges Ziel, hält, was unsere Bergführerin uns versprochen hat. Man fühlt sich ein wenig geheiligt, hier oben. Was auch daran liegen kann, dass der Aufsteig göttergleiche Kondition verlangt. Die Wirtin ist in der Lage, Handystrahlungen zu erspüren und bittet uns, im Haus die Handys auszuschalten. Und in der Tat kommt sie später hoch, weil noch Handys an sind. Das Problem ist, das manch einer gar nicht weiß, wie das Ding abzuschalten ist. Die Wirtsleute selbst räumen bei voller Hütte ihr Quartier und übernachten im Zelt. Angesichts der umlaufenden Gewitter, eine mutige Tat.

Zunächst aber sitzen wir auf der Terrasse und genießen die Ruhe. Wenn man ein paar Meter aufsteigt, kann man den Lago Maggiore sehen. Und den Bergkamm, auf dem uns morgen in der Früh ein Monstergewitter erwischen wird. Der Abstieg erfolgt dann wieder auf Mulatieras. Ein elendes Gestauche für die Knochen. Sterblichkeit heißt auf italienisch übrigens mortalita. Hört sich fast an wie Mulatiera, warum wohl?

Blickrichtung Lago Maggiore


Aber das wird morgen sein, und das interessiert uns heute noch nicht. Wir genießen die Aussicht und die Gastfreundschaft dieser besonderen Wirtsfamilie. Die Wirtsleute leben ihr Leben hier oben mit Leidenschaft. Das spürt man, und das schmeckt man beim Essen.

Womit wir wieder mal beim Thema Essen wären!

Mangiare, capito?

Ein Exkurs in die italienische Küche sollte erlaubt sein. Erstens, werde ich meinen roten Faden nachher wieder aufnehmen, immerhin mach ich sowas nicht zum ersten Mal. Und Zweitens ist dies hier doch DER besondere Reisebericht. Oder etwa nicht?

Italienisches Essen ist berühmt. Ökonom Joel Waldfogel von der Carlson School of Management hat eine weltweite Untersuchung über die beliebteste Küche angestellt. Und diese führt: Italien! Es gibt weltweit mehr italienische Restaurants als jedes andere.

Ohne Aperol geht nichts

Traumberuf Hüttenwirt?

Kein Wunder, möchte man meinen. Jedes Kind mag Pizza oder Nudeln. Die pure Kochkunst aber erlebt man nur auf den Almhütten, wo im Topf landet, was verfügbar ist. Je einfacher die Hütte, umso leckerer das Essen. Die Hüttenwirte leben karges ihr Leben in der Höhe mit Leidenschaft. Manche backen das Brot selbst oder stellen Nudeln her. Andere melken und käsen. 

Der Alltag wird nicht durchs Frühstücksfernsehen, Börsenticker und neue Staffeln auf Netflix bestimmt, sondern von der Zahl der Gäste und dem Wetter. Wir lernen, dass ein Radler hier ein Panasché ist. Das mixt man sich selbst aus Sprite und Bier. Mitunter geht es gemütlich zu wie bei Großmuttern, so in einigen Tagen auf der Alpe Baranca. Oder man liefert das Entertainment gleich mit, wie vor drei Tagen auf der Alpe Laghetto. In der Albergo Fontana in Rimella nudeln sie die Gäste mit einem 10-Gänge-Menü. Super lecker, aber echt zu viel.

Der Wirt der Alpe Colma, unsere heutige Station, stellt die Nudeln selbst her. Familiäres Ambiente und tolle Fernsicht gibts gratis dazu. Selten gelingt ein Blick in die Küche. Die italienische Küche ist berühmt, aber neugierigen Augen verschlossen.


Italiener "denken" Essen. Wenn man das so nennen darf. Beppe Severgnini schreibt in seinem Buch, “Überleben in Italien”:

"Wir reden vor dem Essen darüber, was wir essen werden. Wir reden beim Essen darüber, was wir essen. Und wir reden nach dem Essen über das, was wir gerade gegessen haben."

Man stelle sich dies bei uns in Nordhessen vor: Der gemeine Nordhesse redet also ausgiebig über seine Bratwurst im Brötchen. Na dann Mahlzeit!

Die GTA soll dem Bevölkerungsschwund entgegenwirken

Das Monstergewitter

Dauerläufer schlafen ruhiger 

Die Nacht auf 1.570 Meter Höhe verläuft erstaunlich ruhig. Ich gehe ein Risiko ein und lege mich aus freien Stücken ins Schnarcherzimmer, weils sonst nicht aufgegangen wäre. Und ein Wunder geschieht: Stille Nacht. Von meinen Mitschläfern wird mir am Morgen bescheinigt, dass sie mich noch nicht mal hätten atmen hören, so geräuschlos schlafe ich. Dies allerdings ist ein Phänomen, welches Ausdauersportler kennen: Wir holen vorm Einschlafen tief Luft, und das reicht uns dann bis zum Morgen. Laufen hat eben viel gute Seiten.

Doch ich schweife ab, riskiere, meinen roten Faden zu verlieren. Über Nacht hat sich das Wetter wieder mal daran erinnert, dass wir 13 Leute sind. Das Frühstück vertilgen wir im Haus, draußen wirds zunehmend ungemütlicher. Vor uns liegen 940 Höhenmeter abwärts, große Stücke davon auf rutschigen Mulatieras. Zunächst aber gehts über einen Höhenkamm, später durch kümmerliche Wäldchen und über Almen. Schon als wir den Höhenkamm überwandern, gehen auf dem Bergkamm gegenüber Blitze nieder. Ringsum zieht sich der Himmel eine schwarze Sturmmaske auf. Es ist schwer zu sagen, woher das Wetter kommen wird, es sieht in jede Richtung wirklich mies aus. Durch unsere Erfahrungen am Atsuntapass sind wir recht ausgekocht, was Gewitter angeht, doch ist es jedes Mal aufs Neue eine Mischung aus Respekt, Angst und Verlorenheit, die uns angesichts einer solchen Kulisse unter die Haut kriecht. 

Das Gewitter wird halten, was es verspricht

Auf manche Dinge kann man einfach verzichten

Der Horizont wird immer schwärzer, langsam kriecht uns das Ungeheuer entgegen, und wir ihm. Bald können wir die Regenwand sehen, die es vor sich her schiebt, sie verwischt die Landschaft dahinter, als wäre diese weggespült. Inzwischen haben wir alles angezogen, was irgendwie wasserdicht ist. Kurz darauf bricht die Hölle los. Wir hocken in einem Erlenwäldchen, bauen mit den Schirmen kleine Zelte und warten. 

Der Donner bricht mit einer Gewalt durch die Atmosphäre, dass der Berg unter uns bebt

Wir können die Blitze links und rechts sehen, wenn wir hinschauen wollten. Am besten aber schaut es sich auf die eigenen Schuhspitzen. Es wäre völlig unmöglich, dem Nachbarn in 10 Metern Entfernung etwas zurufen zu wollen, denn die Sintflut hat eingesetzt und das Wasser stürzt brüllend vom Himmel herab. Die Schläge der Blitze kommen näher, und bald feuert der Himmel seine Ladung direkt über uns ab. Trotz der Hanglage ist der Boden unter uns ein einziger Fluss. 


 

Es scheint nur eine Frage von Sekunden, bis ein Blitz in der Nähe einschlägt und den ganzen Bergkamm in einen großen Kondensator verwandelt und uns in frische Broiler. Doch alles hat ein Ende, nur der Berg hat zwei. Irgendwann ist der Wahnsinn vorüber und wir steigen ab. Am Bahnhof in Vercelli erwischt es uns nochmal, und wir traben tropfnass ins Hotel ein. Die Tour mit dem Summit Club ist zu Ende. Heute Abend noch verabschieden wir unsere Bergführerin und ein paar der Mitwanderer. Und morgen haben wir einen Tag Pause am Ortasee.

Hier endet der zweite Teil des Reiseberichtes. Im Anschluss folgt, wie im Auftakt angekündigt, das Thema Tyrannei, bezogen auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. 

Bis demnächst

Olaf

 

Der Mann, von dem die folgende Aussage stammt. Ist mir noch persönlich bekannt, wenn auch lange verstorben. Sein Sohn hat mir freundlicherweise den Bericht seiner Folter zur Verfügung gestellt. Das Opfer wurde nach dem 17. Juni 1953 als angeblicher Aufrührer verhaftet und gefoltert.

Lange her? Die Methoden der Unterdrückung ändern sich nie. Und Folter bleibt Folter, ob in der DDR oder in der Ukraine. Russland kennt, abgesehen von zwei sehr kurzen Episoden in seiner Geschichte (unter Kerenski und unter Jelzin) nur den Weg der Unterdrückung. In erster Linie die der eigenen Bevölkerung. Und wenn es sich ergibt, auch die der Bevölkerung anderer Länder. Das dies von der Politik vergessen wurde, hat das aktuelle Drama überhaupt erst ermöglicht.

Der vorliegende Bericht ist 9 Seiten lang, die paar Auszüge daraus sollten mehr als genügen, kein einigermaßen geistig gesunder Mensch kann mehr ertragen. Die gesammelten Unterlagen des Opfers umfassen zwei Leitz-Ordner.








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