Magdeburg Marathon - ein Lauf mit Geschichte

Auf die Frage, warum ausgerechnet der Magdeburg-Marathon, dann antworte ich meist, weil das meine alte Heimat ist. Das ist natürlich gelogen, ungefähr in dem Verhältnis, wie ein in Berlin lebender Kasselaner einen Start beim Frankfurt-Marathon damit begründet, er laufe in seiner alten Heimat. Jeder Nordhesse kennt diesen feinen Unterschied.
gleich gehts los

In Magdeburg am Start


Am Sonntag den 20. Oktober um kurz nach 9 stehe ich jedenfalls mit 254 anderen Läufern und Läuferinnen hinterm Messegelände Magdeburg und warte auf den Startschuß. Bis zur letzten Sekunde vor dem Start grübele ich über mein Ziel. Die Vorbereitungszeit war extrem kurz, nur viereinhalb Wochen. Eigentlich wollte ich langsam laufen und schauen, ob ich vielleicht noch ein paar Kilometer dranhängen könnte. Allerdings hätte ich gerade heute einen ganz besonderen persönlichen Grund Gas zu geben.
Das Läuferfeld ist überschaubar, aber das kommt mir gelegen. Mir graust bei der Erinnerung an Frankfurt 2018, das Gedränge aus dem kein Herauskommen war. Ansprache des Bürgermeisters und los gehts. Natürlich zu schnell. Da ich nun schon mal zu schnell bin, entscheide ich mich für die zweite Variante und renne mit. Nun nur nicht übertreiben! Ablenken hilft, ich beobachte meine Mitläufer.
vorher... wie wirds nachher sein?

Kleiderordnung

So selten ich Marathon gelaufen bin, fasziniert mich doch immer wieder das bunte Durcheinander und vor allem die Kleidung. Wir sind gestartet bei 13 Grad, es ist nahezu windstill und die Sonne kommt raus. Regen ist keiner zu erwarten. Und doch werde ich links und rechts von Läufern in Polarausrüstung überholt. Zum Beispiel von einem jungen Mann, der hat tatsächlich Wollhandschuhe an, eine Mütze auf und natürlich eine lange Hose. Der läßt aber nach einem Kilometer bereits die Luft raus und fällt zurück. Viel zu schnelle 4:30 auf den Kilometer laufe ich und werde noch überholt. Ein Läufer in langen Hosen hat doch tatsächlich gestrickte Wollstulpen um die Waden. Hoffentlich hat er Löcher in den Schuhen, damit der Schweiß weglaufen kann. Lange Hosen sind bei dem Wetter sehr in. Dafür werden oft Muskelshirts getragen, Oberarme zeigen, oft auch sehr sehenswert, aber eben am falschen Ende gespart. Ich werde überholt von jemandem der sein Handy mitschleppt, und nebenher Selfies macht. Respekt, wer die Kraft dafür aufbringen kann! Wir laufen durch den Herrenkrugpark, eine Parkanlage so groß wie ein kleines Königreich, früher Ausreitrevier der kaiserlichen Kavallerieoffiziere. Eine Pferderennbahn gibts hier noch heute, das Offizierskasino wurde zum stylischen Viersternehotel umfunktioniert. Alles sehr mondän und natürlich mit einer Patina aus alten, preußischen Zeiten versehen. Aber Preußen, pah!

Anhalt und die Zarin

Ich bin in Zerbst geboren und aufgewachsen. Das mag wohl nur 35 Kilometer südöstlich von Magdeburg liegen, aber das ist Anhalt. Mit Preußen hatten wir nix zu tun, wir waren eigenständiges Fürstentum. Und bis heute schmückt sich die Stadt mit ihrer berühmtesten (Stief)Tochter:  Prinzessin Sophie Auguste Friederike, erste Tochter des Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst-Dornburg, spätere Zarin Katharina die Große. Die ist zwar in Stettin geboren und hat Zerbst kaum gesehen, aber Ihr Elternhaus steht dort, besser gesagt stand dort, bis April 1945.
Sowas hat Magdeburg nicht zu bieten, weshalb man als Zerbster gerne auf die Elbmetropole hinabschaut. Klar, in Magdeburg ist Otto der Große gekrönt worden, aber das ist tausend Jahre her. Während Katharina!, da können sich ja die Urgroßeltern fast noch dran erinnern. Jeder Zerbster der was auf sich hält, ist freilich irgendwie mit dieser Prinzessin verwandt. Ich auch! Es dürfte mir jedoch schwer fallen  das nachzuweisen, denn meine Großeltern kamen aus dem Fläming, der Berliner Provinz und aus Schlesien.
Elblandschaft südlich von Magdeburg

Entlang der Elbe

In Schlesien entspringt auch der Fluß, dem wir beim Magdeburg Marathon lange Zeit folgen. Aus dem Herrenkrugpark heraus gehts über die Elbe hinweg am Hafengelände vorbei in Richtung Stadtzentrum. Dies hier ist, wenn ich richtig liege, der zweitgrößte Binnenhafen Deutschlands. Ein Stück weiter den Fluß hinauf, in Sichtweite der Marathonstrecke, befindet sich deshalb eines der größten Verkehrsprojekte der Deutschen Einheit, das Wasserstraßenkreuz. Hier überquert der Mittellandkanal die Elbe. Eine Art Trog auf Brückenpfeilern bildet eine künstliche Wasserstraße über die Elbe hinweg. Wer auf der A2 in Richtung Berlin unterwegs ist, kann kurz hinter Magdeburg links dieses Bauwerk über der Elbe sehen. Mit etwas Glück sieht man wie Containerschiffe hoch über der Elbe hinwegfahren, ein faszinierender Anblick. Das Wasserstraßenkreuz Magdeburg ist ein Ort des Staunens: Die weltgrößte Trogbrücke und die gigantischen Hebewerks- und Schleusen-Konstruktionen stehen neben naturbelassenen Auen-Urwäldern. Das Wasserstaßenkreuz kann man besichtigen, zum Beispiel mit der Weißen Flotte ab Magdeburg Petriförder. Die Geschichte und imposante Technik des Wasserstraßenkreuzes wird auf amüsante Weise erläutert; mit Einblicken in die Binnenschifffahrt und vielen Anekdoten zu alter Flusspiraterie und zum Deichbauer-Aberglauben. Die Fahrt durch das historische Schiffshebewerk ist ein Erlebnis, insbesondere wenn man mit Kindern unterwegs ist. Wo kann man schon mal mit einem Schiff Fahrstuhl fahren?

Eine lange Gerade wird kommen

Im Hafen wird wohl so manches umgeschlagen. Auf der Laufstrecke sehe ich ein kleines Zipptütchen mit Kräutern liegen. Kräutertee? Da wollte sich einer einen schönen Abend machen, Pech gehabt.

Ab jetzt gehts geradeaus. In Magdeburg sind zwei Halbmarathonrunden zu laufen. Meine Frau startete 50 Minuten nach mir und wird den Halbmarathon als Nordic Walkerin laufen. Und genau Ihre Zielzeit hab ich im Visier.
Ab der Wende, kurz nach der Überquerung der Elbe, verläuft die Strecke etwa 8 Kilometer mehr oder weniger gerade direkt neben der Elbe entlang. Zunächst durch einen Damm verborgen, laufen wir später die Flaniermeile am Fluß runter. Leichter Wind von Süden. Ich hänge mich hinter einen jungen Läufer in den Windschatten. Der Junge trägt Fleecepullover und ihm läuft er Schweiß in Strömen den Nacken hinab. Nach 4 Kilometern Windschatten muß ich vorbei, er wird mir zu langsam. Ich spüre meine Beine. Mein Tempo bleibt konstant unter 5 Minuten. Es könnte klappen, ich hab meine Gründe dranzubleiben.
Foto: Stadtmarketing Magdeburg

Entlang der Skyline

Rechts die Altstadt mit Blick auf den sehr imposanten Dom. Allein die Dimensionen des Magdeburger Doms muß man mal gesehen haben, der Bau sucht seinesgleichen. Rund um die Altstadt gibts einige exzellente Restaurants und vor allem Geschichte satt. Magdeburg war im Mittelalter einer der am dichtesten besiedelten Plätze Europas.
Dich besiedelt ist der Marathonlauf nicht. Platz genug um mit mir selbst unterwegs zu sein. Am Ende der langen Geraden queren wir wieder die Elbe. Hier leiert ein Animator ständig den gleichen Spruch herunter, man hört ihn schon Kilometer vor und hört ihn noch Kilometer nach der Brücke. "Ihr seht gut aus! Hier ist der Verpflegungspunkt der Biederitzer Feuerwehr!" Biederitz ist ein Vorort von Magdeburg. Fast schon Provinz.
Andrea am Start

Der Kaiser und Zippel-Zerbst

Wo wir bei Provinz sind. Bei allem fürstlichen Glamour war meine Heimatstadt Zerbst immer Provinz. Aber so richtig. Vom Preußenkönig Friedrich-Wilhelm I. stammt das Schimpfwort, der Kaiser behandle ihn wie einen Fürsten von Zipfel-Zerbst. Damit ist alles gesagt. Anhalt-Zerbst, das war immer der Zipfel an Preußens Rock. Die Bahnstrecke von Berlin her, legte man an der Stadt vorbei und errichtete einen Bahnhof in einem Dorf namens Güterglück. Die Vergangheit der Stadt läßt sich heute noch an Ruinen ablesen. So an denen der Nicolaikirche, in die man die Dresdner Frauenkirche drei mal hineinstellen könnte.

Parrallelen?

Leider hat man ja auch die ICE-Strecke von Hannover nach Berlin an Magdeburg vorbei gebaut. Schade eigentlich. Magdeburg ist, meiner Meinung nach, die am meisten unterschätzte Landeshauptstadt Deutschlands. Und nur weil eine CDU-Landesregierung nach der Wende und eine SPD-Minderheitsregierung danach das Land finanziell ruiniert haben, muss man es ja nicht gleich abschreiben. Für Sportler hat Magdeburg auf alle Fälle viel zu bieten. Schwimmer und Handballer aus Magdeburger Vereinen sind Weltspitze. Und der Fußball, nun der hat mit Abstand die lautesten und treuesten Fans die man sich denken kann. Und dann gibts da eben noch den Marathon, eine extrem flache Strecke. Bis auf zwei Brücken und einen Deich flach wie eine Schallplatte. Es gibt einige kurze Kopfsteinpflasterpassagen und einige Meter gekiesten Feldweg. Wer damit leben kann, wird auf der kurvenarmen Strecke gute Zeiten hinlegen können. Auf meiner Uhr war die Strecke 800 Meter zu kurz, ein Garant für Bestzeiten:). Laufen am Fluß hat auch seinen Reiz.
Von der Stadt sieht man nicht viel, das ist schade. Denn trotz der Zerstörungen des Krieges ist Magdeburg sehr sehenswert. Kasselaner trauern bis heute ihrem historischen Stadtbild nach, gleich den Magdeburgern. Und den Zerbstern.

Parrallelen!

Das mittelalterliche Stadtbild meiner Heimatstadt, Zerbst wurde einst Mitteldeutsches Rothenburg genannt, ging am 8. April 1945 unter amerikanischen Bomben unter. Und zwar komplett. Außer der Stadtmauer ist nichts erhalten. Auch das Schloß der Fürstenfamilie wurde stark beschädigt. Ironischerweise begannen die Russen bald nach der Besetzung damit,  die besser erhaltenen Flügel des Schlosses zu sprengen. Sie sahen es wohl als Sinnbild preußischen Militarismus an.. In romanisch verbrämten Geschichten werden die Offiziere der Roten Armee gerne als belesene und gebildete Menschen geschildert. Nun ja... Die hatten offensichtlich keine Ahnung, was sie da in die Luft jagten, das Elternhaus der auch in der Sowjetunion sehr veehrten Katharina der Großen. Irgendjemand hat es dann gewagt beim Stadtkommandanten wegen des Schlosses vorzusprechen. Der Mann war mutig. Für dergleichen Anfragen konnte man zu der Zeit in einen Güterwagen gesteckt und abtransportiert werden. Wenn sich dann die Türen des Waggons wieder öffenten, befand sich der Unglückliche meist unweit von Kap Deshnew und durfte des Rest seiner Tage Blei aus den Felsen kratzen.
Die Sprengung des Schlosses wurde tatsächlich eingestellt. Leider, muss ich sagen. Den Rest hätte man nun auch noch in die Luft jagen können.
Natürlich hat man uns früher in der Schule immer erzählt, die Russen seien bei ihrem Einmarsch sehr traurig gewesen, dass die Amerikaner das Schloß zerstört hatten. Die guten alten Zeiten ohne Internet! Damals gabs auch schon Fake-News.

Zweite Runde

Inzwischen hab ich die zweite Runde eingeläutet. Ich bin ein wenig in Sorge wegen meines Tempos. Den Halbmarathon hab ich in 1:42 hinter mich gebracht, autsch. Ob ich das halten kann? Unwillkürlich, mit den Sorgen, werde ich langsamer. Zu allem Überfluß meldet sich auch noch die Blase. Die Kilometer 22 bis 26 laufe ich nicht mehr mit dem Elan wie bisher. Sehnsüchtig warte ich auf die Wende nach Süden. Jetzt einfach die lange gerade Strecke an der Elbe runter laufen ohne nachzudenken. Den Schritt langziehen und die Arme mitnehmen und Tunnelblick. Nach der Elbquerung, hinter dem Hafengelände, das Kräutertütchen hat wohl schon einen dankbaren neuen Besitzer, bekomme ich bei Kilometer 27 plötzlich einen Flash. Mein Tempo steigt wieder deutlich unter 5 Minuten, und es läuft wie geschmiert. Die letzten Walker tauchen vor mir auf, und die ersten Marathonläufer gehen vor Erschöpfung. Jetzt an meinem ganz persönlichen Ziel dran bleiben, hämmere ich mir ein. Es läuft gut, ich hab Luft, so richtig Luft!

Magdeburger Luft

Apropos Luft: In Magdeburg wurde bekanntlich die Luftpumpe erfunden. Vielleicht sogar der Luftdruck! Otto von Guericke, damals Bürgermeister der Stadt, hat diesen bewiesen, indem er zwei Halbkugeln zusammenfügte, die Luft absaugte und dann mittels Pferdegespann versuchte die Dinger auseinander zu reißen. Jeder weiß, dass das nicht geklappt hat. Die Tiere landeten beim Roßschlächter, von denen  es in dieser Region noch heute manche gibt, und der Luftdruck in Fahrradreifen.
Bemerkenswerterweise befand sich wenige Kilometer südlich von Magdeburg, in Schönebeck, eine der berühmtesten Fahrradfabriken des Deutschen Reiches, die Firma Weltrad. Das Walzen der Hohlrohrverbindungen des Fahrradrahmens wurde von der “Weltrad” erfunden, wodurch das Hartlöten der Rahmen abgelöst wurde und zur Revolutionierung des Fahrradbaus führte. Durch diese geniale Erfindung gelang es der “Weltrad”, zu einem internationalen Fahrradhersteller aufzusteigen. Heute gibt es in Schönebeck eine Fahrradmanufaktur die das Weltrad wiederbelebt hat. Die Manufaktur liegt direkt am Elberadweg und wer sie besucht und sich nicht augenblicklich in ein Weltrad verliebt, der ist ohenhin verloren. Wer Magdeburg besucht, MUSS unbedingt Weltrad besuchen. Gut essen kann man da übrigens auch, mit Terrasse direkt an der Elbe. Ein Spruch: Wer Geld hat, fährt Weltrad:)

Rennradler auf Kollisionskurs

Thema Radfahrer: Im Nachgang wird auch meine Frau erzählen, dass ein Rennradfahrer sie fast überfahren habe, einer mit Kopfhörern auf der Birne. Eine der wenigen Situationen in denen ich den Mittelfinger ausstrecke, der Typ hat mich fast umgenietet.
Kilometer 35 liegt hinter mir. Inzwischen bin ich doch recht müde. Die Biederitzer Feuerwehr hat mir wieder nachgerufen, wie gut ich aussehe. Wie gut die lügen können! Der Strickstulpenmann geht am Straßenrand, er kann nicht mehr. Inzwischen sind es 18 Grad, er dürfte einfach überhitzt sein. Ein Stück weiter der Selfiemann. Auch gehend. Keine Selfies mehr, der Akku ist leer. Und dann bei Kilometer 38 überhole ich Andrea. Stehen bleiben und Knutschen geht jetzt nicht, sonst ist alles aus. Also weiter. Etwa einen Kilometer vorm Ziel, auf Höhe des höchsten Holzgebäudes der Welt, schaue ich auf die Uhr: 3:22. Schei.... Also doch! Es geht noch was, und ich laufe bei 3:27:09 über die Ziellinie. Geschafft. Und nicht ein einziges Mal drüber nachgedacht, warum ich mir das antue.

Man ist so alt, wie man aussieht

Schnell entsorge ich meinen Chip und laufe durch das Ziel die Strecke zurück um Andrea abzuholen. Sie walkt, ist auf Bestzeit aus, und das wird sie auch schaffen. Als wir auf die Zielgerade einbiegen kriegen wir unsere persönliche Ansage:
"Der Vati holt die Mutti ab."
Na danke! Ab heute ist mir klar, dass ich in der Seniorenklasse angekommen bin. Demnächst wird die Durchsage wohl lauten, der Opa holt die Oma ab. Man ist so alt wie man sich fühlt, bei diesem Spruch.

Motivationsziel Hochzeitstag

Alles in allem sind wir glücklich im Ziel. Und ich hab mein persönliches Ziel erreicht: Ich wollte an unserem Hochzeitstag mit meiner Frau zusammen aufs Zielfoto. Es hat Spaß gemacht, das Wetter hat mitgespielt und die Strecke ist wunderschön. Bei der Organisation kann Magdeburg sich einiges in Kassel abschauen. Ein paar mehr Verpflegungspunkte hätte ich mir gewünscht, Zug- und Bremsläufer gab es auch keine. Der Zieleinlauf ist natürlich mit dem im Auestadion nicht zu vergleichen, lange nicht. Heimat ist Heimat, ob alt, ob neu. Wichtig ist, dass man sich wohl fühlt. Schön, wenn man das von zwei Orten sagen kann.


Eine gute Zeit wünscht Euch
Olaf

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